Etwa um das Jahr 1980 erschien ein Bericht in der deutschen Allgemeinen Forstzeitung (AFZ) über Provenienzversuche bei der Weißtanne (Abies alba), die 1935/36 an mehreren Orten in Dänemark angelegt worden waren. Bis etwa zum Bestandsalter 20 wurden zwischen den 19 verwendeten europäischen Herkünften keine erheblichen Unterschiede festgestellt. Im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre schoben sich jedoch drei südliche Provenienzen deutlich nach vorne: „Strimbu Bajut” (Südkarpaten, Rumänien), „Pelister Planina” (Kosovo) und „Monte Gariglione” (Kalabrien, Süditalien). Das Tannensterben der 1970er-Jahre veranlasste die Forstberatung der Bezirksbauernkammer Schärding, Landwirtschaftskammer Oberösterreich (LKOÖ) zunächst zu einem Versuch mit der Herkunft „Strimbu Bajut”. Über Vermittlung des österreichischen Botschafters in Bukarest erhielt der Verein der bäuerlichen Forstpflanzenzüchter (BFZ) Saatgut, und wir begannen etwa 1983 mit Auspflanzungen.
Wenig später war in der AFZ zu lesen, dass sich die Unterschiede zwischen den Provenienzen auf den dänischen Versuchsflächen stark vergrößert hatten, mehr noch: Nur die Kalabrier waren gesund geblieben, alle anderen Provenienzen (auch Südkarpaten und Kosovo) blieben im Wuchs stark zurück, erlitten stärkere Nadelverluste, und die Böden begannen sichtlich zu verunkrauten. In der Folge führte ein Kontakt mit dem dänischen Forstwissenschaftler Prof. Bo Larsen, damals an der Universität Göttingen, zum Erwerb größerer Mengen Saatgutes von Abies alba C 120 „Monte Gariglione” (1.400-1.700 m Seehöhe). Die Aussaat beim BFZ ergab ca. 300.000 Sämlinge. Tannen dieser Provenienz wurden daraufhin in den 1990er-Jahren bis über die Jahrtausendwende hinaus von vielen Waldbesitzern in großer Zahl gepflanzt. In praktisch keinem Fall wurde eine negative Meldung bekannt (eine einzige Ausnahme: eine Pflanzung auf einem zeitweise stark vernässten Standort mit hohem Grundwasserstand).
Die Untersuchungen und Beobachtungen Bo Larsens
Am 8. Juli 1985 erreichten mein Kollege Hans Heis von der Forstabteilung der LKOÖ und ich am frühen Nachmittag die Universität Göttingen und erhielten von Prof. Larsen eine mehrstündige „Privatvorlesung” über seine neuesten Forschungsergebnisse in der Causa „Weißtanne”. Gleich nach der Begrüßung führte Prof. Larsen uns in sein Gewächshaus. In diesem großen, hellen Raum wuchsen gleichaltrige Topfpflanzen aus dem gesamten Verbreitungsgebiet der europäischen Weißtanne, von den Pyrenäen bis zu den Karpaten, von Mitteleuropa bis Süditalien. Wir waren am Eingang der Halle stehen geblieben und Prof. Larsen sagte: „Sehen Sie sich das an – alle Pflanzen sind gleich groß, alle Triebe gleich lang.“ Die Tanne verhält sich nicht wie eine normale Baumart (bei Fichte oder Douglasie gibt es zum Beispiel kleinere und größere Pflanzen in den Saatbeeten). Eine erschreckende Uniformität! Nur die Tannen links vom Eingang – diese Pflanzen waren unterschiedlich groß: Da wuchsen die Kalabrier.
Der anschließende Vortrag, den Prof. Larsen uns zwei Österreichern im Hörsaal hielt, war vielleicht die interessanteste Vorlesung, die ich je gehört habe: Es waren die gebündelten Resultate seiner Untersuchungen, seiner Habilitationsarbeit. Die vorhandenen Herkünfte wurden auf verschiedene Faktoren hin untersucht – etwa auf Frostresistenz, Belastung durch SO2, Trockensubstanzproduktion, Trieblänge, Austriebszeit etc. Die interessantesten Ergebnisse erbrachte eine sogenannte Cluster-Analyse, in der anhand aller untersuchten Faktoren festgestellt wurde, wie weit sich die einzelnen Provenienzen in der Summe unterschieden. Dabei fiel auf, dass die europäischen Herkünfte – mit Ausnahme der südöstlichen aus dem Karpatenraum und Jugoslawien sowie der südlichsten aus Kalabrien – nur minimalste Unterschiede aufwiesen. Dies entsprach auch dem Bild der Jungpflanzen: Sie wiesen alle exakt dieselben Trieblängen auf. Die kalabrischen Provenienzen hingegen hatten außerordentlich große Unterschiede, nicht nur bei den Trieblängen, sondern auch bei den anderen Eigenschaften aufzuweisen.
Volle genetische Diversität
Prof. Larsen folgerte, dass nahezu alle europäischen Weißtannenherkünfte von einer sehr kleinen Restpopulation abstammen dürften, die während der Eiszeit etwa zwischen Rom und Neapel, in der Gegend der Pontinischen Sümpfe, unter schwierigsten Bedingungen auf ein Klima hin selektiert wurde, das praktisch heute in Europa nirgends mehr – allenfalls in Mittelnorwegen an der Küste – existiert. Die kalabrische Weißtanne hingegen wäre demnach die eigentliche frühere europäische Weißtanne mit ihrer vollen genetischen Diversität und Potenz. Die südjugoslawischen und südrumänischen Her-
künfte hätten ihre größere genetische Vielfalt wahrscheinlich aufgrund der Einkreuzung der Griechischen Tanne (Abies cephalonica) aufzuweisen, aber auch sie blieben bei den dänischen Versuchen wenige Jahre später letztlich zurück. Faktum ist: Die über Tausende Kilometer – von den Pyrenäen bis in die Karpaten – verstreuten europäischen Weißtannenherkünfte zeigen einen Bruchteil der genetischen Vielfalt der bloß über 200 km verstreuten süditalienischen Weißtannenherkünfte.
Weißtannenherkünfte aus Kalabrien (links) und Mähren (rechts) auf der Versuchsfläche im dänischen Bregentved (1986) © K. Lüdemann
Unterschiede bei Allelen, Prolepsis und Assimilationsleistung
Weitere Untersuchungen Larsens haben gezeigt, dass kalabrische Weißtannen drei Allele (Funktionsträger der Erbmasse) anstelle von zweien bei allen übrigen Herkünften an den Genloci (an den dafür vorgesehenen Stellen des DNS-Stranges) angeordnet haben. Auch die Tannen aus dem Apennin und Korsika besitzen nur zwei Allele. Eine interessante Beobachtung: Kalabrische Tannen weisen in der Baumschule 50% Prolepsis (Julitriebe) auf, alle anderen Herkünfte der Weißtanne maximal 10%. Eine weitere Beobachtung von größter Bedeutung: Die Pflanzen des Göttinger Tannen-Provenienzversuchs wurden schließlich nach Erreichen einer gewissen Größe ins Freie übersiedelt und der „guten” Göttinger Stadtluft ausgesetzt. Hier zeigte sich, dass die kalabrischen Provenienzen ihre Nadeln nicht nur länger behielten, sondern vor allem auch länger funktionsfähig hielten. Die Funktionsfähigkeit (Nettoassimilationsleistung) der Kalabrier begann sich erst nach vier Jahren um 25% zu vermindern. Die Nadeln aller übrigen Herkünfte hatten dagegen mit vier Jahren ihre Funktionsfähigkeit schon verloren.
Somit schließt sich der Kreis. Auf den Bildern aus Dänemark ist gut erkennbar: Unter den kalabrischen Tannen fehlt die Bodenvegetation, die Nachbarflächen sind verunkrautet. Ähnliches finden wir auf einer Versuchsfläche im italienischen Vallombrosa, östlich von Florenz. Auch auf unseren oberösterreichischen Flächen behalten die kalabrischen Tannen offensichtlich länger ihre Nadeln als die anderen Herkünfte. Das beeinflusst das Stärken- und Massenwachstum der Bäume, auch der Äste.
Die oberösterreichischen Tannenversuche
1990 wurden in Oberösterreich durch die Forstberatung der Landwirtschaftskammer an drei Standorten Vergleichsanbauten mit je zwei oberösterreichischen („Gosau” und „Hausruck”) und zwei kalabrischen Herkünften (C 120 „Monte Gariglione”, Seehöhe 1.400-1.700 m) auf je 400 m2 mit dreifacher Wiederholung begründet. Dank der Bemühungen Christoph Jassers wurden die Versuchsflächen vom Bundesforschungszentrum für Wald (BFW) übernommen. 2011 erfolgte eine erste Aufnahme und Auswertung durch Dr. Günter Rössler, 2015 eine zweite (Jasser, 2016). Die drei Versuchsflächen weisen eine gute Streuung der Seehöhe auf. Die Daten: Sauwald (730 m Seehöhe; 1.018 mm Niederschlag; 6.8°C Jahresmitteltemperatur), Feldkirchen bei Mattighofen (530 m; 934 mm; 8,2°C), St. Florian bei Linz (340 m; 753 mm; 8.8°C).
Unerwartet sind die starken Unterschiede schon im frühen Bestandesalter, auch zwischen den zwei heimischen Herkünften. Die heimische Herkunft „Hausruck“ schnitt fast überall am schlechtesten ab. „Gosau“ (Dachsteingebiet) lag im Sauwald an der Spitze, sonst im Mittelfeld. „Monte Gariglione“ C 120 im oberen Bereich, im Sauwald weitaus an der Spitze. Zu beachten ist dabei eine Aussage Prof. Larsens: Bei den dänischen Versuchen waren die Kalabrier (C 120) in den ersten Jahrzehnten im Mittelfeld und schoben sich erst später an die Spitze.
Neuere dänische Tannenversuche, dänische Saatgutplantage
Im Frühjahr 1987 wurden in Dänemark erneut 5-jährige Weißtannenpflanzen verschiedener Herkünfte an zwei Stellen ausgepflanzt: 13 (!) kalabrische und jeweils eine aus Mittelitalien, Rumänien und Deutschland. Nach 15 Jahren erfolgte eine Auswertung, deren Ergebnisse 2004 veröffentlicht wurden(Hansen & Larsen, 2004). Es zeigen sich beachtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen kalabrischen Herkünften. Vermerkt wird in dieser Arbeit die Feststellung Larsens (1981), dass die Überlegenheit der Herkunft „Monte Gariglione“ bei den früheren dänischen Versuchen erst 21 (!) Jahre nach Versuchsanlage zu sehen war. Vermerkt ist auch, dass Lofting 1954 bei Gariglione einen geringeren Trieblausbefall feststellen konnte als bei den mitteleuropäischen Herkünften. 1987 wurde in Baekkelund nahe der mitteljütländischen Stadt Viborg eine Saatgutplantage mit Material vom Monte Gariglione, 1.600 m Seehöhe, angelegt, die heute in größerer Menge Saatgut liefert. Die Weitsicht in Forschung und Praxis der dänischen Forstleute ist dankbar anzuerkennen.
Die fast ausgestorbene Sizilianische Tanne (Abies nebrodensis) wächst in ihrer Heimat auf 1.500 m Seehöhe. © K. Lüdemann
Abhängigkeit von Breitengrad und Meereshöhe
Die alte dänische Versuchsfläche bei Schloss Bregentved liegt etwa 50 km südlich von Kopenhagen, nicht weit über Meereshöhe. Die oberösterreichischen Versuchsflächen liegen am östlichen Rand der subatlantischen Klimazone, etwa 800 km südlich der dänischen Fläche. Kalabrien bildet den südlichsten Teil des italienischen Festlandes, erstreckt sich über eine Länge von etwa 200 km und liegt rund 1.000 km südlich der oberösterreichischen Fläche.
Die Rotbuche wächst im dänischen Raum auf Meereshöhe. Im Sauwald, der höchsten oberösterreichischen Fläche, entspricht der Tannenversuch etwa der mittleren Buchenstufe. In Vallombrosa, östlich von Florenz, finden wir Tannen im oberen Castanetum (Edelkastanienstufe) und in der unteren Stufe des Fagetum (Buchenzone), etwa im Bereich der Benediktinerabtei (900 m). Auch in Kalabrien wachsen Buchen im oberen Tannenbereich (Monte Gariglione) sowie oberhalb (Aspromonte). Im Norden Siziliens (Madonie), nur wenig südlicher als das südlichste kalabrische Tannenvorkommen, existiert ein kleines Rotbuchenvorkommen oberhalb der Tannenstufe – die hier von der fast ausgestorbenen Sizilianischen Tanne (Abies nebrodensis) gebildet wird – auf etwa 1.500 m. Unter Ausklammerung anderer Faktoren könnte man eine Bergaufverschiebung der Natürlichen Waldgesellschaften der Klimaxzonen von 700 m je 1.000 km Südverschiebung annehmen. Das ergibt eine gewisse Vergleichbarkeit der Fläche von Bregentved mit den oberösterreichischen Versuchsflächen – besonders Sauwald und Monte Gariglione.
Zusammenfassung, waldbauliche Bedeutung
Es ist hier nicht der Platz, die waldbauliche Bedeutung der Tannenversuche umfassend zu erörtern. Sie ist jedoch offensichtlich bedeutend angesichts der derzeitigen Problematik der Fichte. Auf geeigneten Standorten gewinnt die Douglasie außerordentlich an Bedeutung. Für tiefere und mittlere Lagen wird die Weißtanne jedoch noch mehr als bisher zum unentbehrlichen waldbaulichen Faktor. Nachweislich besitzen die kalabrischen Provenienzen der Weißtanne das volle ursprüngliche genetische Spektrum – es ist dies laut Larsen die „eigentliche Weißtanne“. Sie besitzt eine bedeutend größere Widerstandskraft gegen schädliche Umwelteinflüsse als alle anderen europäischen Tannenherkünfte. Trotz verminderter SO2-Belastung durch den Einbau von Filteranlagen in die Schlote von Industrien ist in unserer Luft weiters mit einer großen Zahl problematischer Elemente zu rechnen, die sowohl auf die Assimilationsorgane als auch im Boden wirken. Zunehmende Temperaturen und häufigere Sommertrockenheit empfehlen bei Nadelbäumen ebenfalls einen vermehrten Einsatz jener besonderen südlichen Tannenprovienz, allerdings je nach Standort auch die Douglasie. Großflächige Reinkulturen sind bei allen Baumarten in der Regel zu meiden.
Redaktionelle Anmerkung
Prof. Larsen teilte uns am 8. April mit:
„Mit großer Freude habe ich den Entwurf des Artikels gelesen. Dabei kamen viele gute Erinnerungen von Ihrem Besuch in Göttingen vor 30 Jahren hoch. [...] Die Besonderheit der kalabrischen Tanne ist seitdem in der Tat Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung und in den vergangenen Jahren haben viele Untersuchungen die damalige Hypothese bestätigt und weiter ausgebaut. [...] Im Augenblick versucht die italienische Regierung, das Gebiet um Monte Gariglione zum UNESCO-Weltnaturerbe zu deklarieren. Ich habe dazu ein kleines Opus verfasst, um die ,herausragende allgemeine Bedeutung‘ zu beschreiben und zu begründen – alles mit Ausgangspunkt unserer damaligen Untersuchungen.“
In seinem „kleinen Opus“ zeigt Larsen, dass im Gebiet von Monte Gariglione nicht nur bei der Tanne ein besonderer genetischer Reichtum erhalten blieb, der im nördlichen Europa unter dem Druck der Eiszeiten verloren ging – nicht nur der letzte Eiszeit, sondern dem gesamten Eiszeitalter (2,6 Mio. Jahre) mit seinen bislang 11 Glazialperioden. Der größere genetische Reichtum der kalabrischen Tanne bedeutet ein höheres umweltphysiologisches und auch evolutives Ausgangspotenzial im Vergleich mit allen nördlicheren Tannenpopulationen sowie auch eine größere Vitalität.