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Der Jahrhundertsturm Vaia hat in Südtirol alles verändert © Robert Kittel

SÜDTIROL

Lücken und Blößen im Schutzwald

Ein Artikel von Georg Pircher, Günther Unterthiner, Florian Blass - Abteilung Forstwirtschaft, Autonome Provinz Bozen, Südtirol | 04.07.2022 - 10:15

Seit dem Mittelalter bestanden in Südtirol, so wie in den umgebenden Alpenregionen, lokale und landesfürstliche Waldordnungen, die die Nutzung des Waldes einschränkten und verschiedenste Vorschriften enthielten. 1877 wurde im damals jungen Nationalstaat Italien ein erstes staatsweites Forstgesetz erlassen, indem eine „forstliche Nutzungsbeschränkung“ für Grundstücke eingeführt wurde. Nach der Eingliederung von Südtirol in Italien 1919 wurde das zweite Staatsforstgesetz von 1923, das eine „hydrogeologische Nutzungsbeschränkung“ enthielt, auch auf die

Provinz Bozen ausgedehnt. Dieses italienische Forstgesetz war eher ein Bodenschutzgesetz und zielte auf den Schutz aller Böden vor Erosion und Zerstörung ab, auch wenn die Wälder mit all ihren Funktionen, die Bergmähder und Weiden besonders geschützt wurden. Dies bedeutete nicht, dass keine Eingriffe mehr möglich waren, sondern etwa für die Wahl einer Straßentrasse oder für die Bestoßung einer Weidefläche Vorschriften gemacht wurden; für den Wald war die Festlegung eines Hiebsatzes sowie die Holzauszeige vorgesehen.

Autonomie auch im Forstgesetz
Durch das Autonomiestatut erhielt Südtirol später primäre Gesetzgebungskompetenz im Bereich Forstwirtschaft. Mit dem Südtiroler Landesforstgesetz 1996 wurde schließlich aus der hydrogeologischen Nutzungsbeschränkung die „forstlich-hydrogeologische Nutzungsbeschränkung“.
Unterliegt eine Grundparzelle dieser Nutzungsbeschränkung, was auf über 90% der Landesfläche und rund 99% der Waldfläche der Fall ist, sind wie oben beschrieben Gutachten und Ermächtigungen notwendig. Als Ausgleich für diese Einschränkungen sieht das Forstgesetz die kostenlose Beratung, die Möglichkeit von Förderungen sowie die Arbeiten in Eigenregie durch den Forstdienst vor.
Auch durch diese Regelungen, die für nahezu den gesamten Wald gelten, kam es lange zu keiner konkreten landesweiten Ausweisung der Kategorie Schutzwald mit Festlegung einer speziellen Strategie zu Förderung und Bewirtschaftung.

Schließlich wurde 2008 endlich auch für Südtirol eine Schutzwaldhinweiskarte erstellt, in der die Schutzfunktion als computergestützte Modellierung (für die drei Naturgefahrenprozesse Sturz, Lawine und Murgang) dargestellt wird. Laut dieser Auswertung sind 58% des Südtiroler Waldes als Standortschutzwald und 24% als Objektschutzwald zu klassifizieren, der Siedlungsbereiche und wichtige Infrastruktureinrichtungen direkt schützt.
Mit der Umsetzung der Waldtypisierung schließlich konnte viel Wissen zum Potenzial und zur Behandlung der Bergwälder gesammelt und kompakt zusammengefasst werden. Auf deren Grundlage ist die vorgeschriebene Holzauszeige durch die Forstbehörde das wichtigste Entscheidungs- und Steuerungsinstrument des Waldbaus.

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Beregnungsanlage für Versuche © BFW

Blössen nehmen zu
Um die Behandlung des Schutzwaldes vor allem aus hydrologischer Sicht und seine Standfestigkeit im Hinblick auf flachgründige Rutschungen zu optimieren, wurde 2018 (bereits vor den Vaia-Sturmschäden) zusammen mit der Landesforstdirektion Tirol ein Interreg-Projekt initiiert. Das Projekt „Blößen: Auswirkungen verzögerter Wiederbewaldung im Schutzwald auf die Sicherheit vor Naturgefahren – insbesondere Abflussbildung“ untersuchte Testflächen und Einzugsgebiete im Bezirk Landeck in Nordtirol und im Forstinspektorat Schlanders in Südtirol, wobei das Bundesforschungszentrum für Wald die Untersuchungen leitete.

Beobachtungen zeigen, dass Anzahl und Ausmaß bewirtschaftungsbedingter, aber auch durch natürliche Prozesse (Schneedruck, Windwurf, Erosion) entstandener, Blößen im alpinen Schutzwald zunehmen und gleichzeitig viele Bestände einer dringenden Verbesserung ihrer Schutzwirkung bedürfen. Die Zielsetzung war daher, die konkreten Auswirkungen der Zunahme von Freiflächen im Schutzwald sowie von Beständen mit schlechter Bestockung auf die Sicherheit vor Hochwasser zu untersuchen und darauf aufbauend Bewirtschaftungshinweise zu erstellen. Mit der Analyse von Luftbildreihen wurde gezeigt, dass tatsächlich schon länger eine Zunahme der Blößen und Lücken stattfindet; einerseits durch Neuentstehung, andererseits dadurch, dass Lücken sich langsamer schließen.

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Abflussbeiwerte und Beregnungsversuche im Südtiroler Schutzwald © T. Rössler

Oberflächenabflüsse im Fokus 
Im Rahmen von Beregnungsversuchen (Starkregensimulationen mit 100 mm/h) wurden Abflussbeiwerte von verschiedenen Standorten, aber auch von vergleichbaren Standorten mit unterschiedlicher Bestockung untersucht. Während in einem zwergstrauchreichen Fichtenaltholz am Istalanzbach kein oberflächlicher Abfluss entstand, wurden in der benachbarten begrünten Schipiste Messwerte von bis zu 83% Oberflächenabfluss ermittelt. Am Vinschgauer Sonnenberg zeigte eine Weidefläche 65% oberflächlichen Abfluss, der als Schutzwald aufgeforstete Schwarzföhrenbestand nebenan nur noch 26% und schließlich ein in den letzten Jahren in laubholzreichen Mischwald umgewandelter Bestand gar keinen Oberflächenabfluss.

Wald: besserer Bodenspeicher
Mit kontinuierlichen Messungen der Bodenfeuchte konnte klar gezeigt werden, dass in Blößen die Feuchte höher bleibt als innerhalb eines intakten Waldes. Dies bedeutet, dass im Falle von großen Niederschlagsmengen im Wald ein größerer Bodenspeicher zur Verfügung steht. Auch die Untersuchung von Hangrutschungspotenzialen zeigte den positiven Einfluss von Waldzusammensetzung und -struktur. Abschließend wurde eine Niederschlags-Abfluss-Modellierung für verschiedene hydrologische Einheiten und die zwei Einzugsgebiete durchgeführt. Diese zeigt, dass verschiedene Waldzustände große Auswirkungen haben: So kann etwa eine wiederbewaldete Blößenfläche die Abflussspende um 70% reduzieren oder je km² Verdichtung lichter Waldbestände die maximale Abflussspende um 35% senken. Auf der Ebene von ganzen Einzugsgebieten ist der Effekt des Waldanteiles groß. Dennoch konnte in einer Szenarioanalyse gezeigt werden, dass die Waldbewirtschaftung oder Zusatznutzungen wie Waldweide merklichen Einfluss auf Abflussverhalten und -menge haben.

Als wesentliches Ergebnis für den Praktiker entstand ein kompaktes Handbuch mit konkreten Handlungsanleitungen. Es enthält, vom Projekt ausgehend, aber verallgemeinert auf den Schutzwald, Empfehlungen zur Verbesserung der hydrologischen Wirkung des Waldes. Dieses Projekt kann also im besten Sinne als „forstlich-hydrogeologisch“ bezeichnet werden und es zeigt auch deutlich auf, dass in Hinblick auf Naturgefahrenvorbeugung die aktive Schutzwaldpflege nicht vernachlässigt werden darf.

Link zu Handlungsanleitungen des BFW (pdf)