Stefan Wötzel schneidet Buchenknospen, sie enthalten bereits die voll ausgebildeten Blätter und die Gesamtzahl aller Gene © Martin Egbert
Die letzten Meter zu "Bhaga" führen über einen schmalen Grat. Dann stehen Marco Thines und sein Kollege Stefan Wötzel nach einem halbstündigen Aufstieg durch den nordhessischen Nationalpark Kellerwald-Edersee endlich vor Deutschlands wohl ältester Buche, die ihre weit verzweigten Wurzeln um und in die schroffen Felsen gekrallt hat. Der Baum ist eher ein Busch. Anstelle eines massiven Hauptstammes hat er – wie bei Bäumen dieses hohen Alters üblich – viele Stämme und Äste ausbildet, die meisten aufgeplatzt und geschuppt, mit Pilzen und Moosen bewachsen. Fast könnte man die Rotbuche für eine Korkeiche halten.
Der Ausblick durch das bunte Herbstlaub hinunter auf den Edersee ist großartig. Der Blick auf den Boden dagegen offenbart die extreme Kargheit des Standortes. Nährstoffe dürften in dem steilen und felsigen Grund schwer zu finden sein. Regenwasser kann sich auf ihm kaum halten, es fließt sofort ab ins Tal. „In diesem Boden ist wirklich nicht viel zu holen“, sagt Marco Thines. Dabei blickt der Evolutionsbiologe vor seine Füße, die in einem Paar schwarzer Outdoorschuhe stecken.
Stolze 350 Jahre
„If I can make it there, I‘ll make it any-where“, sang Frank Sinatra einst und meinte New York. Er kannte diese Felsnadel im Kellerwald nicht, an die sich die uralte Buche bereits seit mindestens 350 Jahren festklammert. Genau deswegen sind die beiden Wissenschaftler nun schon zum sechsten Mal hierher gekommen. Die beiden Forscher am Biodiversität-und-Klima-Forschungszentrum der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt wollen herausfinden, warum Bhaga so lange an diesem Standort überlebt hat. Sie wollen die DNA der Urbuche entschlüsseln, um die Zukunft der Wälder in Europa zu sichern, die zum Teil dramatisch unter Hitze und Trockenheit leiden.
Auch der von den Wissenschaftlern nach dem indogermanischen Wort für Buche benannte Baum hat gelitten in den Jahrhunderten. Aber nicht so sehr wie viele andere Rotbuchen an diesem Standort, von denen viele aufgrund der trockenen und heißen letzten Jahre am Ende ihrer Energieressourcen sind. Marco Thines zeigt Exemplare mit sehr kleinen Blättern oder ohne ausgebildete Bucheckern. Auch nach bereits abgestorbenen, kahlen Bäumen muss er nicht lange suchen. Warum sind einige Bäume noch verhältnismäßig fit, wo es anderen so miserabel geht? Wo doch alle mit dem gleichen Standort und Klima kämpfen müssen?
Stefan Wötzel (li.) und Marco Thines bei der Probennahme für die genetische Untersuchung © Martin Egbert
Unterwegs mit Teströhren und Kamera
Aufschluss darüber soll das Genom Bhagas geben. „Dieser unzugängliche Teil des Waldes wurde wahrscheinlich noch nie bewirtschaftet“, erklärt Marco Thines. Also bietet Bhagas Erbgut einen von Menschen unverfälschten Blick auf die Anpassung des Baumes an einen extrem unwirtlichen Standort.
Bhagas Genom dient aber auch bei einer Reihe unterschiedlicher Untersuchungen an europäischen Rotbuchen als Bezugspunkt. Die Wissenschaftler vergleichen es mit den genetischen Eigenschaften von Exemplaren, die an sehr warmen Orten im Südwesten Deutschlands, in gemäßigten Zonen oder sehr trockenen und kalten Regionen in Polen wachsen. Erforschen wollen sie auch die genetischen Eigenschaften jüngerer Rotbuchen hier im Kellerwald. Haben sie auf die Klimakrise schon reagiert? Findet über die Pollenverbreitung ein Genfluss aus Südeuropa statt, der zu einer langsamen Anpassung an Hitze und Trockenheit der Buchen auch bei uns führt?
Im Gepäck haben Marco Thines und Stefan Wötzel einen Schneider mit Teleskopstange, eine Kamera und einen Rucksack voller Röhren für die Proben. Vorsichtig tasten sie sich an dem steilen Hang entlang, fotografieren Blätter und Baumstämme, prüfen die Bodenbeschaffenheit, fachsimpeln und knipsen hier und da eine Knospe ab, die in einer der mitgebrachten Röhren verschwindet. Knospen enthalten bereits die voll ausgebildeten Blätter und die Gesamtzahl aller Gene.
Im Gegensatz zu Blättern oder Ästen sind Knospen durch eine äußere Schicht von Schuppen umgeben. Diese schützen die Blätter der Knospen vor Pilzen oder anderen Verunreinigungen. Thines und Wötzel legen die Röhren in eine Kühlbox. Dann steigen sie wieder hinab, um zurück nach Frankfurt zu fahren.
Digitale Zusammensetzung
Das Forschungszentrum der Senckenberg-Gesellschaft liegt am Rande des Bankenviertels. Hier wachsen Hochhäuser wie Pilze aus dem Waldboden. Im Labor pult Stefan Wötzel mit einer Pinzette die Schuppen von den Knospen. Mithilfe ex-tremer Kälte, mechanischer Zerkleinerung, einer Salzlösung und Zentrifuge zerlegt der Umweltgenetiker die einzelnen Zellen und ihre DNA möglichst kleinteilig und isoliert sie. Anschließend setzt ein Computerprogramm das Genom so wieder zusammen, dass unser Auge es erkennen kann. „Das Programm rekonstruiert aus dem Hackfleisch die Kuh“, erklärt Wötzel. Ein zweites Programm arbeitet dann die Unterschiede der Proben heraus. „Die Unterschiede sind es, die uns interessieren“, so der Wissenschaftler weiter. Das Ergebnis flimmert hinter ihm als bunte Tabellen über den Bildschirm. Was sich schnell anhört, braucht Zeit. Zurzeit analysieren die Wissenschaftler noch die Daten der Proben aus 2020. Große Datenmengen müssen bearbeitet werden. 400 Proben kommen nach dem Sequenzieren als 15 Terabyte Daten zurück.
Stefan Wötzel im Labor des Biodiversität-und-Klima-Forschungszentrum der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt - Vorbereitung für die Genanalyse © Martin Egbert
Schnelltest für relevante Gene
Die Buche verfügt über 60.000 Gene. Das sind erheblich mehr als die 23.000 des Menschen. Daraus lässt jedoch nicht unbedingt eine höhere Anpassungsfähigkeit folgern. Eine sehr wichtige Erkenntnis aus dem Projekt konnten die Forscher bereits publizieren: Ob eine Buche Trockenstress und Hitze überlebt, darüber entscheiden lediglich 90 Positionen von insgesamt 500 Millionen auf dem gesamten Genom. Anhand statistischer Analysen hat man verifiziert, dass genau diese 90 Positionen für die Trockenresistenz verantwortlich sind. Die betreffenden Bäume unterscheiden sich in Hinblick auf Pathogenresistenz und andere Eigenschaften. „Gerade deshalb ist keine genetische Verarmung zu befürchten“, betont Marco Thines. Hat ein Baum diese Positionen, kann er die Klimakrise überleben. Das könnte die Forstwirtschaft nutzen, indem sie die evolutionäre Selektion „anschubst“.
Zurzeit arbeitet das Team an der Entwicklung eines Schnelltests, mit dem ein Förster herausfinden kann, ob ein Baum über die erforderlichen 90 genetischen Merkmale verfügt. Mit einem handlichen Testgerät, das in zwei bis drei Jahren fertig sein soll, kann er Baumproben untersuchen und mit einer Datenbank abgleichen. In nur wenigen Minuten erfährt er, ob die einzelnen Buchen seines Waldes gegen Trockenheit und Hitze gewappnet sind. Sind sie es nicht, kann er die Exemplare bei der nächsten Ernte fällen. Haben sie die gewünschten genetischen Merkmale, lässt er die Bäume stehen und befördert somit die Verbreitung ihres Erbgutes in seinem Forst. Bei der Produktion von Setzlingen kann das Wissen über den genetischen Schlüssel für Trockenresilienz ebenfalls genutzt werden. „Bevor gebietsfremde Arten eingeführt werden, kann man so der Buche helfen, sich selbst zu helfen“, sagt Marco Thines. Die Wissenschaftler gehen zudem davon aus, dass sich ihre Entdeckung auch auf andere Baumarten übertragen lässt. Die Kosten für so einen Schnelltest sollen nur wenige Euro betragen. Eine kleine Investition also – mit möglicherweise großen Folgen für die Zukunft des Waldes.
Zum Thema: BUCHENSTERBEN
Der Verlust der Fichten durch die heißen und trockenen Sommer der vergangenen Jahre war vorhersehbar. Doch Buchen galten lange Zeit als Hoffnungsträger für den Waldumbau. Um so mehr schockierten die Nachrichten vom Buchensterben im Süden Badens oder im Nationalpark Hainich, dem größten zusammenhängenden Laubwald Deutschlands und – ebenso wie der Nationalpark Kellerwald-Edersee – Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.
Zwar gelten Buchen als anpassungsfähig, allerdings nicht unbegrenzt: Eine 100 Jahre alte Buche braucht mehrere 1000 l Wasser pro Tag. Die Klimakrise sorgt deshalb schon jetzt für flächendeckendes Buchensterben. Marco Thines ist sich sicher, dass das, was die Bäume in den letzten Jahren durchgemacht haben, nichts ist im Vergleich dazu, was sie erwartet. Er geht aber auch davon aus, dass die Buche über einen ausreichend variablen Genpool verfügt, um sich an die Klimakrise anzupassen.
Zum Thema: TRAUBENEICHEN ENTSCHLÜSSELN
Einen ähnlichen Ansatz wie das Forschungsprojekt der Senckenberg Gesellschaft verfolgt das Projekt Aquarell. Ein Team aus Mitarbeitern der Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft Rheinland-Pfalz, der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg und des Bayerischen Amtes für Waldgenetik untersucht die genetischen Eigenschaften urzeitlicher Traubeneichen.
Diese überdauern, ähnlich wie Bhaga und seine Nachbarn, an schwer zugänglichen, unbewirtschafteten Felshängen. Sie kommen mit extrem trockenen Standorten zurecht. Deshalb gelten sie als vielversprechender Genpool für einen klimastabilen Wald. Künstliche Saaten und Pflanzungen könnten den natürlichen Ausbreitungsprozess geeigneter Genotypen beschleunigen. Dieses auch als Assisted Migration bezeichnete Konzept könnte helfen, trotz der Klimakrise Waldökosysteme zu sichern.