Es lebe der „Angstschnitt“! Nachdem das Baumhaftungsthema für lange Jahre keine große Rolle gespielt hatte, führten in den vergangenen beiden Jahrzehnten zahlreiche Haftungsfälle und die damit einhergehende Bewusstseinsbildung bei den Baumverantwortlichen zu einem radikalen Umdenken. Im Zusammenspiel mit erheblichen Rechtsunsicherheiten hat das in der Praxis dazu geführt, dass immer mehr Bäume „vorsorglich behandelt“, also zurückgeschnitten, verstümmelt oder gefällt wurden und werden.
Diese in vielen Fällen zu Recht als notwendig empfundenen, viel öfter jedoch als überbordend einzustufenden Eingriffe in Bäume und Wälder stehen dem breiten öffentlichen Interesse an der Erhaltung gesunder Baumbestände mit ihren vielfältigen Wohlfahrts-, Schutz- und Erholungswirkungen diametral entgegen.
Wie konnte es dazu kommen? In Österreich gibt es keine Legaldefinition des Begriffs „Baum“. Schon seit Jahrzehnten setzt der Oberste Gerichtshof (OGH) Bäume in ständiger Rechtsprechung mit Bauwerken gleich, wodurch es im Haftungsfall zur Beweislastumkehr kommt. Nicht zuletzt daraus resultiert eine oft unklare, anfangs zudem meist auf bundesdeutsche Entscheidungen gestützte Rechtsauslegung, die gepaart mit blühendem Halbwissen zu einer breiten Verunsicherung der Baumverantwortlichen geführt hat – die im Zweifel auf der sicheren Seite zu bleiben trachten und „gefährliche“ Bäume entnehmen. Man spricht von „Angstschnitten“ – doch Angst ist nichts Anderes als eine „gesunde Reaktion auf eine bedrohliche Situation“.
Initiativen
Zunächst wurde das Thema vor allem bei „Baumtagen“ forstlicher Ausbildungsstätten und Veranstaltungen des Linzer Baumforums behandelt, im Februar 2011 dann auch durch den Ratgeber „Der Baum im Nachbarrecht“ (Herbst/Kanduth/Schlager). Ab 2015 wurden die bis dahin bestehenden Initiativen unter der Ägide der Stadt Wien-Umweltschutz (MA 22) zu einem breit angelegten, österreichweiten Prozess zusammengeführt, der Plattform „Österreichische Baumkonvention“. Dank der breiten Unterstützung und konstruktiven Mit- und Zusammenarbeit zahlreicher Experten aus Praxis, Verwaltung und Wissenschaft ist es der Plattform gelungen, eine Reihe wesentlicher Schritte zum Schutz der Bäume vor überbordenden Eingriffen zu setzen. Dazu gehören die Erarbeitung und Verteilung des „Leitfadens Baumsicherheitsmanagement – Bäume sichern und erhalten“, ein Entwurf der zuständigen Ministerien für einen neuen § 1319b ABGB („Baumhaftung“) wie auch die Mitarbeit an der Überarbeitung in diesem Zusammenhang relevanter Önormen. Nicht zuletzt wurde das Baumhaftungsthema auch in das aktuelle Regierungsprogramm 2020–2024 aufgenommen: „Evaluierung der haftungsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen bei der Kontrolle und Pflege von Bäumen und Wäldern mit dem Ziel, Österreichs Bäume und Wälder zu erhalten und unnötiges Zurückschneiden oder Fällen von Bäumen zu verhindern (Wegehalterhaftung)“. Der Erfolg der bisherigen Arbeit der Plattform „Österreichische Baumkonvention“ hat also gezeigt, dass im Zusammenwirken aller relevanten Akteure sehr viel erreichbar war und noch vieles zu erreichen sein wird.
Die Initiatoren der Plattform „Österreichische Baumkonvention“ haben daher im Frühjahr 2023 den gemeinnützigen Verein „Forum Baumkonvention“ gegründet mit dem Ziel, den eingeschlagenen Weg zum Schutz und zur Erhaltung unserer Bäume und Wälder bundesweit auf breiter Basis weiterzugehen und eine Anlaufstelle für sich in diesem Zusammenhang ergebende Fragen und Handlungsnotwendigkeiten zu bieten.
Baumkonvention – Warum?
Wozu braucht es aus Sicht der Waldeigentümer und Waldbewirtschafter das Forum Baumkonvention? Im Forstgesetz ist schließlich ein Haftungsprivileg vorgesehen: Der Waldeigentümer haftet maximal im Ausmaß der Wegehalterhaftung.
Jede über das normale Betretungsrecht hinausgehende Nutzung der Öffentlichkeit, der der Waldeigentümer zustimmt, erhöht jedoch den anzulegenden Sorgfaltsmaßstab.
Daher ist eine genaue Kenntnis der Haftungslage im Einzelfall für den Eigentümer bzw. den Bewirtschafter von Waldflächen durchaus interessant. Eine freigegebene Mountainbikeroute, ein Waldkindergarten – all dies führt zu Verschiebungen in der Beurteilung der Haftungssituation. Diese Tatsache ist wohlbekannt und führt zu entsprechenden Reaktionen, oftmals zu den bereits angesprochenen überbordenden „Angstschnitten“, mit der Zielsetzung der Risikominimierung. Daher erscheint es wichtig, dass sich auch Forstleute mit den Zielen des Forums Baumkonvention auseinandersetzen und aktiv an der rechtlichen Entwicklung beteiligen. Nicht nur, um sicherzustellen, dass es zu keiner Verschlechterung der Rechtslage im Wald kommt, sondern auch, um in anderen Bereichen, in denen Bäume und Haftung im Vordergrund stehen, Know-how zur Verfügung stellen. Um dies zu ermöglichen, war es für die Initiatoren des Forums Baumkonvention wichtig, hier die „Forstpartie“ aktiv einzubinden und an Bord zu holen. So wurde auch im Rahmen der Landesforstdirektor*innenkonferenz 2023 der Beschluss gefasst, die Initiative zu unterstützen und sich aktiv einzubringen. Schließlich soll Erholungsnutzung, das Zur-Verfügung-Stellen von Grundflächen und die Haftung ein gedeihliches Miteinander ermöglichen und nicht unüberbrückbare Barrieren und Spaltungen in der Gesellschaft schaffen. - Michael Mitter, Salzburger Landesforstdirektor
Leitfaden
Der Leitfaden „Baumsicherheitsmanagement – Bäume sichern und erhalten“ wurde im Rahmen der Plattform Österreichische Baumkonvention in Zusammenarbeit entwickelt und stellt den Stand der Technik dar. Auf Basis der aktuellen Rechtslage werden die abgestuften Maßstäbe für Baumprüfungen und Sicherungsmaßnahmen erläutert. Der Leitfaden wird von mehr als 80 führenden Institutionen getragen und wurde im November 2022 von der Bundesministerin für Justiz, Dr. Alma Zadić, gemeinsam mit dem Wiener Klimastadtrat, Jürgen Czernohorszky, der interessierten Öffentlichkeit präsentiert.
Der Leitfaden funktioniert derart, dass ein zu beurteilender Baum oder Baumbestand zunächst nach seinem Standort einem von drei Landschaftstypen (Wald/freie Landschaft/Siedlungsgebiet) zugeordnet und auch seine konkrete Lage innerhalb des Landschaftstyps (beispielsweise neben einem markierten Wanderweg, im Bereich eines Rastplatzes, Fußgängerzone oder übergeordneter Verkehrsweg) beurteilt wird. Dies deshalb, weil die Gesellschaft wie auch der Gesetzgeber je nach Landschaftstyp und Nutzung einer Fläche unterschiedlich hohe Erwartungen an die Sicherheit der Bäume stellen – und zwar von gar keiner bis zu hoher Sicherheitserwartung. Daraus ist der für den konkreten Fall erforderliche Prüfstandard abzuleiten. Darauf aufbauend wird dargelegt, wie die unterschiedlichen Prüfstandards umzusetzen sind, wie Gefahren erhoben werden, notwendige Maßnahmen geplant (und gesetzt) werden können und wie diese schließlich zu dokumentieren sind.
Der Leitfaden hat sich zur wesentlichen Beurteilungsrichtlinie und Handlungsanweisung für Baumverantwortliche und Entscheidungsträger entwickelt. Als Vademecum des Baumsicherheitsmanagements kommt er österreichweit zur Anwendung.
Die Einschränkung der Baumhalterhaftung auf grobes Verschulden bewirkt nicht, dass sich die Bürger mehr fürchten müssten, sondern dass sich die Baumhalter weniger fürchten müssten. Das ist in unser aller Interesse. Höhere Sicherheit wird nicht durch Haftung auch für leichte Fahrlässigkeit erreicht, sondern vielmehr durch die Zuordnung der Bäume zu Landschaftstypen im Sinne des Leitfadens (Siedlungsgebiet im Gegensatz zu Wald / freie Landschaft) und den sich daraus ergebenden Prüfregimen.
Leitfaden Baumsicherheitsmanagement – Bäume sichern und erhalten
kostenloser Download unter https://www.wien.gv.at/umweltschutz/baumhaftung.html oder www.waldrecht.at
ABGB-Novelle
Wie schon eingangs erwähnt, setzt der OGH in ständiger Rechtsprechung Bäume mit Bauwerken gleich. Dadurch kommt es im Haftungsfall zur Beweislastumkehr: Anders als im klassischen Schadenersatzrecht, wo der Geschädigte den Schaden und das Verschulden des Schädigers beweisen muss, kann sich im Fall der Baumhaftung der Halter des Baumes nur dadurch entlasten, dass er beweist, alle zur Abwendung der Gefahr erforderliche Sorgfalt aufgewendet zu haben. Dieser Entlastungsbeweis gilt nur dann als erbracht, wenn der Halter alle Vorkehrungen getroffen hat, die vernünftigerweise nach der Auffassung des Verkehrs erwartet werden konnten (auch hier bietet der Leitfaden „Baumsicherheitsmanagement“ die entscheidenden Beurteilungsgrundlagen).
Wenn es sich auch von selbst verstehen sollte, dass Bäume keine Bauwerke (und auch nicht mit Bauwerken gleichzusetzen) sind – rein rechtlich betrachtet sieht das aktuell leider anders aus. Der Baumhalter hat im Schadensfall seine Schuldlosigkeit zu beweisen, weil er es in der Hand hatte, eine mangelnde Beschaffenheit seines Baumes rechtzeitig zu erkennen und für geeignete Abhilfe zu sorgen. Ein naheliegendes Bestreben vieler Baumhalter ist daher, auf der „sicheren Seite“ zu bleiben – was zu den zahlreichen starken, sicher oft auch überschießenden Eingriffen geführt hat.
Das Problem wurde erkannt und ist auch bei der Politik angekommen (siehe Regierungsprogramm 2020–2024). Ein Entwurf der Neuregelung der Baumhaftung (neuer § 1319b ABGB, mit dem die Sorgfaltspflichten des Baumhalters angepasst werden und auch die Beweislastumkehr wegfallen soll), wurde von den zuständigen Ministerien zwar bereits im Dezember 2021 vorgelegt. Bisher lässt die Umsetzung jedoch auf sich warten.
Klar – und auch im Entwurf so vorgesehen – ist, dass die Haftungsprivilegien des § 176 ForstG dadurch unberührt bleiben (müssen). Genauso klar – wenn auch leider nicht für alle – ist, dass es auch bei der Baumhalterhaftung (§ 1319b ABGB) zu einer Einschränkung der Haftung auf grobes Verschulden kommen muss, nicht zuletzt im Hinblick auf die relevanten forstgesetzlichen Regelungen und die Bestimmungen zur Wegehalterhaftung des § 1319a ABGB. Das forstgesetzliche Haftungsprivileg wird mit der Erholungs- wie auch Wohlfahrtswirkung des Waldes und auch als Ausgleich für die gleichzeitig erfolgte Öffnung des Waldes begründet. Die Einschränkung der Wegehalterhaftung auf grobes Verschulden ergibt sich aus der Zulässigkeit der allgemeinen Benutzung eines Weges und dem damit gegebenen Nutzen eines Weges für die Allgemeinheit: Der Wegehalter erbringt durch die Erhaltung eines durch jedermann benützbaren Weges eine Leistung im Interesse der Öffentlichkeit und soll dafür in den Genuss einer Haftungsbeschränkung kommen. Und weil evident ist, dass alle Bäume (auch solche außerhalb eines Waldes) Leistungen im Interesse der Öffentlichkeit (Klimaregulierung, Wasserspeicherung und weitere) erbringen, gibt es wohl kein Argument, warum der Halter eines Baumes nicht gleichfalls in den Genuss einer Einschränkung der Haftung auf grobes Verschulden kommen sollte, somit keinesfalls strenger als ein Wegehalter haftet.
Im Mai 2023 hat die Landesumweltreferent*innenkonferenz die Bundesministerin für Justiz ausdrücklich ersucht, den vorliegenden Entwurf einer Änderung des ABGB zu Fragen der Baumhaftung zu präsentieren, wobei dieser Entwurf eine Angleichung an den Sorgfaltsmaßstab der Wegehalterhaftung beinhalten sollte. Schön, wenn es bald so weit wäre, damit in Österreich ein Baum rechtlich nicht weiterhin einem technischen Bauwerk gleichgesetzt werden kann.
Impression aus der Praxis: Bild und Text warnen eindrücklich vor herabfallenden Ästen. Ist das ausreichend im Fall einer Haftungsklage? © Michael Mitter
ÖNORM
Der Leitfaden normiert – auf Basis der aktuellen Rechtslage und je nach Standort des Baumes – unterschiedliche Sicherheitsmaßstäbe und Prüfstandards. Die ÖNORM L 1122 regelt Einzelbaum- und Bestandesprüfungen, sie wird derzeit überarbeitet. Dabei wird es auf eine klare Abgrenzung der Anwendungsbereiche beider Dokumente ankommen. Nicht anwendbar soll die ÖNORM sein a) auf alle Bäume, die Teil eines Waldes iSd Forstgesetzes sind oder auf landwirtschaftlichen Nutzflächen/Gartenbauanlagen stocken, sowie b) in allen anderen Fällen, in denen eine (einfache oder vertiefte) Baumsicherheitsbegehung im Sinne des Leitfadens ausreicht.
Waldrandhaftung und Forstgesetz
Die Rechtsprechung ist in den vergangenen Jahren einer sehr wald- und baumhalterfreundlichen Linie gefolgt. So hat der Oberste Gerichtshof etwa festgestellt, dass das Haftungsprivileg des § 176 ForstG auch auf Sachschäden anwendbar ist, die auf einer dem Wald benachbarten Liegenschaft durch einen Baum verursacht wurden, der erkennbare Mängel aufgewiesen hat und wegen dieser Mängel auch umgestürzt ist. Hätte sich der vorliegende Schaden allerdings auf einem Weg ereignet, wäre es zu keinem Haftungsausschluss gekommen.
Die Frage der Waldrandhaftung ist rechtlich jedoch keinesfalls geklärt, das Forstgesetz enthält keine klaren Regeln zur Waldrandhaftung. Wenn sich in dieser Hinsicht auch derzeit Lehre und Rechtsprechung als sehr waldfreundlich darstellen, ist damit für den Waldeigentümer noch keinesfalls Rechtssicherheit gegeben. Um zu verhindern, dass das Pendel womöglich in die andere Richtung ausschlägt, muss auch am Waldrand Rechtssicherheit geschaffen werden – und das ganz einfach dadurch, dass man die derzeitige höchstgerichtliche Linie im Forstgesetz festschreibt.
Webtipp: www.baumkonvention.at