Japan

Bäume wachsen auf Bäumen

Ein Artikel von Klaus Sieg | 03.09.2024 - 11:25

Ein Meer aus roten, fein gefiederten Ahornblättern zieht vorbei. Das Herbstlaub ist in Japan eine ebenso große Attraktion wie die Kirschblüte. Langsam klettert der Bus die schmale Straße hinauf, eine enge Kurve nach der anderen nehmend, immer weiter hinein in die Berge im Norden Kyotos.
Kitayama heißt übersetzt die nördlichen Berge. Immer schroffer werden die Felsen. Moose und Flechten wuchern über Steine, Mauern, Straßenschilder und Leitplanken. Dann wird es fast dunkel. Dichte Reihen japanischer Zedern lösen die lockere Landschaft aus bunten Laubbäumen, Bambus, Farnen und silbrigen Gräsern ab. Eine wahre Armee eng beieinanderstehender, sehr hoch gewachsener Bäume ohne Äste, die kerzengerade wie Pfeile in den blauen Himmel schießen. Nur an ihrer Spitze wachsen Puschel aus Ästen und Nadeln. Aufgrund der Enge aber genug, um kaum Licht auf den Waldboden zu lassen.
So wächst nach einer traditionellen Methode ein besonders astreines, gerades und standhaftes Holz, das in der japanischen Architektur überwiegend als Zierpfeiler, aber auch für Möbel verwendet wird – speziell beim Bau von Tempeln und Teehäusern – sowie bei der Gestaltung edler Hotels oder Firmenzentralen. Auch internationale Designer schätzen die besondere Qualität und Ästhetik von Kitayama-Zedern. Aber was ist das Geheimnis hinter diesen Bäumen?

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Tadao Nishikawa entastet die Daisugi-Zedern mit einer Sichel. Bis die Zedern verarbeitet werden können, müssen sie sorgfältig mit einer Sichel beschnitten werden. © Martin Egbert

Alte Traditionen
„Wir kultivieren und bearbeiten die Bäume nach einer sechs Jahrhunderte alten Methode“, erklärt Osamu Nakata. Der Holzhändler sitzt vor seinem kleinen Lager in dem Dorf Nakagawa und serviert grünen Tee mit kleinen Süßigkeiten. „Zunächst werden sie sehr eng gepflanzt.“ Die harte Konkurrenz um das Licht lässt die Bäume nach oben streben. Dabei wachsen sie sehr langsam, in zehn Jahren zum Teil nur bis zu einem Durchmesser von 5 cm. 
Deshalb bilden die Bäume sehr dünne Jahrringe aus. Das verleiht dem Holz seine hohe Stabilität und Biegefestigkeit. Forstarbeiter befreien sie zudem regelmäßig von den Ästen. Weil die Bäume so eng stehen, klettern sie auf einem Baum hoch, um von dort aus mit einer Art Sichel die umliegenden Stämme zu entasten. Beim Weiterwachsen umschließen die Bäume ihre Äste mit neuen Jahrringen. So sind sie am Ende außen astrein. Sind die Bäume lang und gerade genug gewachsen, was meistens erst nach vierzig Jahren der Fall ist, werden sie im Sommer von der Rinde befreit, gefällt und zu aufrechten Bündeln gebunden. So trocknen sie im Freien in der Sonne. Die Puschel aus Ästen und Nadeln an der Spitze der Stämme verbleiben zunächst. Sie setzten die Photosynthese fort und ziehen zusätzlich Feuchtigkeit und Nährstoffe aus dem Holz. Den Rest des Jahres trocknen die Stämme in zugigen Lagern.
„Die natürliche Trocknung sorgt für die hohe Stabilität und ansprechende Farbe des Holzes“, erklärt Nakata. Manche Exemplare bekommen die letzten zwei bis drei Jahre ihres Wachstums ein Korsett aus Kunststoffelementen mit Draht um den Stamm gespannt. So bilden sie Muster und Ornamente im Holz. Im Lager fährt Nakata mit der flachen Hand über die sehr glatte und weiche Oberfläche eines Exemplars voller lang gezogener, umeinander herummäandernder Kerben und Mulden. Wie bei allen anderen seiner Hölzer ist die samtweiche Oberfläche so geschlossen, dass sie fast wie aus Kunststoff oder Porzellan wirkt. Das erreicht man durch das Polieren mit einem weichen Sand aus der Region, nachdem er zuvor die Rinde mit einem Dampfstrahler entfernt hat.

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450 Jahre alter Daisugi-Baum in Nakagawa. Eine Zeder dient als Mutterbaum, der so beschnitten wird, dass er eine Art Plattform bildet, auf der die nachkommenden Äste wie junge Bäume nach oben wachsen. © Martin Egbert

Daisugi: Holz aus der zweiten Ebene
Seit vierzig Jahren beschäftigt sich der 60-Jährige mit diesem Holz. Das Geschäft hat er von seinem Vater übernommen. „Ich betreibe es nun in der vierten Generation“, sagt er stolz. Seine Faszination für diese Maruti genannte, traditionelle Methode der Holzproduktion hat er sich erhalten. Am meisten aber begeistert ihn die zweite Variante der regionalen Holzgewinnung. Sie heißt Daisugi, was wörtlich übersetzt „Plattformzeder“ bedeutet. Bei ihr wachsen Bäume aus Bäumen.
Um Daisugi zu erklären, zeichnet der Holzhändler eine Skizze auf ein Blatt Papier. Zunächst wird der noch dünne Hauptstamm von Ästen und Seitentrieben befreit. Nur oben und unten lassen die Forstarbeiter sie stehen. Dann kappen sie nach einigen Jahren den Hauptstamm ein Stück über dem Boden. Daraufhin treiben aus ihm kräftige Triebe, die nach oben dem Licht entgegenstreben. Dieses Stangenholz wächst wie auf einer zweiten Ebene aus dem Baum heraus. Auch sie werden nun regelmäßig mit der Sichel oder Machete von Ästen befreit. So entstehen sehr gerade und standfeste Rundhölzer mit einer glatten und geschlossenen Oberfläche.
Meist werden sie für die Decken von Teehäusern verwendet, aber auch für andere Innenausbauten und für hochwertige Möbel.  „Mit dreihundert verkauften Stangen pro Jahr ist dieses Holz mein eigentliches Hauptprodukt“, sagt Nakata. Ein 3 m langes Rundholz kann dem Händler bis zu umgerechnet 150 € einbringen.
Genug geschwätzt. Der Holzhändler springt auf und startet sein Auto. Daisugi muss man gesehen haben. Durch enge Serpentinen geht es weiter hinein in die zerklüfteten Berge. Vor der mit einem Hektar größten Daisugi-Plantage der Region hält er an. Zu Fuß geht es weiter den steilen Hang hinauf. Der mit einer dicken Schicht von abgeschnittenen Ästen und Zweigen bedeckte Boden federt unter den Schritten. „Das Schnittgut hält die Feuchtigkeit und bringt Nährstoffe in den Boden.“

Bodenleben statt Kahlschlag
Tadao Nishikawa steht auf einer mit Stricken zusammengebundenen Leiter aus Rundhölzern, die gegen einen Daisugi-Baum lehnt. Mit einer Art Machete befreit er die Stangen des Baumes von ihren Ästen. „Ich muss erkennen, welcher Trieb wegmuss und welcher das Potenzial für ein gutes Holz hat, das ist bei jedem Baum unterschiedlich“, erklärt der 76-Jährige. Ausreichend Erfahrung hat Nishikawa. Schließlich beschneidet er japanische Zedern seit seinem 18. Lebensjahr. Gegen das Alter der Bäume der Plantage aber ist der Forstarbeiter jung. Sie werden seit rund 150 Jahren beerntet. Die etwa einen Meter über dem Boden gekappten 3.000 Bäume stehen auf Terrassen, die an den Weinbau erinnern. Einen Kahlschlag gibt es bei der Daisugi-Methode nicht. So können sich die Wurzeln der Bäume immer weiter ausbilden. Auch bleibt das sonstige Bodenleben ungestört, Asseln, Würmer und Mikroorganismen können sich frei entfalten. Doch die Daisugi-Methode ist nur etwas für geduldige Waldbesitzer. „Wir ernten von einem Baum nur alle drei Jahre jeweils zwei Rundhölzer von drei Metern Länge“, erklärt Nishikawa, „der ganze Hektar bringt also nur etwa 500 Hölzer pro Jahr.“
Für sein Alter ist der verschmitzt dreinblickende Nishikawa sehr behände. Er klettert die Leiter herauf und herunter, geizt nicht mit Erklärungen und macht am laufenden Band Scherze. Mit seinem Kopftuch sieht er aus wie ein Mönch mit Kampfsporterfahrung. Wie lange wird er diese Arbeit noch machen? „So lange ich mich bewegen kann, findet ihr mich hier im Wald“, sagt er und lacht.
Nishikawa ist nicht der einzige in die Jahre gekommene Experte für die traditionelle Holzgewinnung Kitayamas. Die Branche leidet unter stark zurückgegangenen Absätzen. Händler, Forstarbeiter und Tischler erzählen wehmütig von Zeiten, in denen die Auftragsbücher voll waren und sie für den Kaiser von Japan oder große Hotelketten in Tokio produziert haben.

Wenig Wertschätzung für altes Handwerk
„Es gibt in der Region nur noch wenige Familien, die Plantagen mit diesem Holz betreiben“, sagt Hiroshi Sumiyama von der Kyoto Kitayama Maruta Productive Cooperative. Von den einst 80 Mitgliedern der Kooperative sind nur noch 20 übriggeblieben. Die meisten sind 60 Jahre und älter. „Die Umsätze sind in den letzten Jahrzehnten dramatisch eingebrochen, vor allem durch billige Holzimporte seit den 1960er-Jahren.“ Der 49-Jährige hat 20 Jahre in New York gelebt und dort Kunst studiert, bevor er wieder in seine Heimat zurückgekehrt ist. „Dieses Holz ist wie Kunst“, sagt er schwärmerisch.
Sumiyama führt durch die Halle der Kooperative, in der vor Kurzem eine Auktion stattgefunden hat. In langen Reihen warten überwiegend Maruti-Hölzer auf ihre Abholung. An den meisten hängen Verkaufskärtchen mit Nummern und Strichcodes zu den Daten der Käufer, die aus ganz Japan kommen. Für ein Rundholz bezahlen sie umgerechnet 700 bis 3.500 €. „Wir können diese Preise aber nur noch erzielen, weil wir das Angebot knapphalten.“ Sumiyama sieht für das traditionelle Zedernholz der Region keine Zukunft, ungeachtet der hohen Qualität und Nachhaltigkeit. „Die meisten Japaner kennen dieses wundervolle Holz gar nicht mehr.“ Zwar werde die Holztechnik Kitayamas staatlich geschützt und gefördert, so wie 47 weitere traditionelle Handwerke in Japan auch, „aber der Staat kann nicht dauerhaft erhalten, wofür die Gesellschaft keine Wertschätzung hervorbringt.“

Hoffen auf Renaissance
Dabei geht es bei dem Erhalt der traditionellen Methode in ihrem sozioökonomischen Kontext um mehr als um Wertschöpfung und Arbeitsplätze, wie ein Autorenteam vor Kurzem in einem Aufsatz in der International Forestry Review festgestellt hat. Das zeigt allein schon die Frage, woher die vielen Tempel Japans in Zukunft die Hölzer für ihre Instandhaltung beziehen sollen, wenn in Kitayama nicht mehr produziert wird.
„Die Nachfrage steigt wieder etwas, das Holz wird eine Renaissance erleben“, sagt Osamu Nakata trotzig und stellt sein Auto wieder vor dem Lager ab. Von hier aus sind es nur wenige Minuten den Hang hinauf zu einem 450 Jahre alten Daisugi-Baum. Der Weg dorthin führt hinter den letzten Häusern des Dorfes den Hang hinauf, vorbei an Gärten mit Haustempeln und Springbrunnen, tiefroten Ahornblättern, Farnen, Jasminblüten und Bambushainen. Der Baum wirkt majestätisch und gleichzeitig unwirklich, mit seiner Plattform aus knorrigen Altstämmen und den darauf wachsenden Daisugi-Hölzern, die sich in den blauen Himmel strecken. Sind wir gerade mit dem Raumschiff auf Mittelerde gelandet? Daisugi erzählt von der Vergangenheit. Vielleicht aber weist es mit seiner Nachhaltigkeit auch in die Zukunft. Zumindest symbolisch.