Übersicht der Wildstände: Seit 1970 stiegen die erhobenen Zahlen von Rot-, Reh- und Schwarzwild in Österreich – parallel zu den ausgestellten Jagdkarten hierzulande. © Statistik Austria
Herr Dr. Moser, Sie sind Absolvent der Universität für Bodenkultur – wie kamen Sie zur Jagd?
Mein Vater war Revierförster im Salzkammergut bei den Österreichischen Bundesforsten, er nahm mich als Kind oft in den Wald mit. Meinen ersten Spießbock erlegte ich im Juli 1942, mein letztes Rehkitz im Dezember 2007. Dazwischen liegt ein von der Jagd begleitetes Leben mit allen Höhen und Tiefen, die die Jagd bieten kann. Da nach dem Forststudium der Waldbau zum Mittelpunkt meines Berufslebens wurde, war ich auch mit Wild und Jagd immer in Verbindung. Wie eng Waldbau, Wild und Jagd miteinander verbunden sind, das habe ich dann in der Berufsausübung gründlich kennengelernt.
Sie haben für unser heutiges Gespräch den obigen Titel gewählt. Warum?
Ein Rückblick über 50 Jahre Wildstandsentwicklung ist für das Verständnis der jagdlichen Situation von heute aufschlussreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die Wildstände eine deutliche, beim Rehwild sogar eine stürmische Aufwärtsentwicklung. Dabei sind die Werte eines einzelnen Jahres in der Regel nicht als Ausdruck einer Entwicklung, sondern als Zeichen einer jährlichen Schwankung anzusehen. Die Tendenz des Verlaufes über mehrere Jahre ist interessanter als ein Jahresergebnis.
Die Zeit um 1970 war eine gewisse Wendezeit zwischen der Freude über den erfolgten Wiederaufbau der dezimierten Wildstände und den vielerorts einsetzenden Klagen über den Anstieg der Wildschäden. Der Anstieg des Wildstands fand bei den Waldbesitzern ein geteiltes Echo: Die einen freuten sich über die vermehrte Jagdmöglichkeit oder über den erhöhten Pachtzins, die anderen erkannten den langfristigen Schaden für den Wald. Die Österreichische Waldinventur zeigte 1970 insbesondere das hohe Ausmaß des Verbisses durch Rot- und Rehwild auf, das Wildeinflussmonitoring ließ ab 2006 das Ausmaß des Verbisses durch Rot- und Rehwild so recht erkennen. In den 1970er- und 1980er-Jahren entstand die sogenannte Wald-Wild-Diskussion. Aber trotz immer genauerer Kenntnis der steigenden Schäden am Wald wurde das allgemeine Anwachsen der Wildstände nicht eingebremst. Es wurde zwar von der Jagdseite immer wieder beteuert, dass das jetzt schon Reduktionsabschüsse wären und dass mehr Wild nicht mehr erlegt werden könne, aber in Wirklichkeit ist der Wildbestand fortwährend bis auf das heutige, für den Wald allgemein viel zu hohe Ausmaß angestiegen.
Sie haben jetzt mehrmals vom Wildstandsanstieg gesprochen. Können Sie das auch konkretisieren?
Ja, gerne. Aber ich möchte bei der Behandlung jagdlicher Globalzahlen, also von Bundes- oder Länderwerten, auf Folgendes hinweisen: Österreich ist nicht etwa ein großes, homogenes Jagdgebiet, sondern besteht aus rund 12.000 einzelnen Jagdgebieten, die alle vom österreichischen Durchschnitt sowohl in positiver als auch in negativer Richtung mehr oder weniger weit abweichen können. Aus der Summe der Einzelwerte werden die Globalzahlen gebildet. Es gibt in Österreich viele Jagdgebiete mit einem harmonischen Wald-Wild-Verhältnis, aber auch sehr viele Jagdgebiete mit einem zu hohen, waldschädigenden Wildstand. Wie die Grafik (Quelle: Statistik Austria und Jagdzeitschriften) zeigt, hat sich der jährliche Rotwildabschuss in der Zeit zwischen 1970 und 2020 von etwa 30.000 auf 55.000 bis 60.000 Stück verdoppelt, der Abschuss des Rehwildes ist von ungefähr 150.000 auf 280.000 Stück angestiegen und auch beim Gamswild hat der Abschuss zugenommen, nämlich von rund 14.000 auf 20.000 Stück. Dieser Abschusszuwachs ist natürlich aufgrund angestiegener Wildstände erfolgt und muss sich irgendwo in konkreten Jagdrevieren abgespielt haben. Bei allen drei Wildarten zeigen die gegenwärtigen Abschusszahlen fast ein Gleichbleiben des bisherigen Trends, aber keineswegs eine spürbare Rücknahme der jetzigen Wildstände. Ein markantes Beispiel für die Bemühung um eine Wildstandsreduktion, aber Verfehlung des Zieles bietet die Kurve der Rehwildabschüsse. Mehrmals hat man dazu angesetzt, das Anwachsen der Rehwildbestände zu stoppen. Aber kaum, dass der Abschuss etwas mühsamer wurde, meinte man, es wäre schon genug gewesen und verfiel wieder in das alte Abschussmuster. Aber nicht die Häufigkeit des Anblickes, sondern der Zustand des Waldes, vor allem seiner Verjüngung, sollte der Gradmesser für die Abschussplanung und -durchführung sein. Neben der Anzahl der Abschüsse hat in den letzten fünfzig Jahren auch die Anzahl der Jäger deutlich zugenommen: Die Anzahl der Jahresjagdkarten stieg von etwa 80.000 auf 130.000 Stück. Auf die Möglichkeit, dass eine größere Anzahl von Jägern eher zu einem Mehr an Wild als zu dessen Reduzierung führt, habe ich schon in früheren Publikationen hingewiesen. Weniger Abschuss von weiblichem Wild und von Jungwild bringt mehr Anblick im nächsten Jahr.
Nicht die Häufigkeit des Anblickes, sondern der Zustand des Waldes – vor allem seiner Verjüngung – sollte der Gradmesser für die Abschussplanung und -durchführung sein.
Der Anstieg des Wildstandes ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die Abschusspläne zu niedrig angesetzt oder nicht erfüllt worden sind. Seitens der Jagd wird häufig erklärt, dass man mehr Wild nicht erlegen könne. Und dass der Jagddruck immer größer werde …
Die Durchführung der angestrebten und nötigen Abschüsse und die Erfüllung der Abschusspläne sind oft weniger eine Fragen der Möglichkeit als vielmehr eine Frage des Wollens. Wenn die Notwendigkeit der Herstellung waldangepasster Wildstände von den Spitzen der Forstwirtschaft und der Jagdwirtschaft über die Bezirksjägermeister bis zu den Jagdleitern unisono und eindringlich zum Ausdruck gebracht wird, dann wissen auch die Jagdausübenden im Revier, worum es geht. Es gibt unzählige Jagdreviere, die beweisen, dass man Wald und Wild sehr wohl in Übereinstimmung halten kann. Und was den Jagddruck anbelangt: Wenn heute auf der um etwa 600.000 ha kleiner gewordenen land- und forstwirtschaftlich genutzten Fläche rund doppelt so viel Stück Rotwild und Rehwild als vor fünfzig Jahren erlegt werden und wenn heute um die Hälfte mehr Jäger als damals im Revier sind, dann darf man sich nicht wundern, dass der Jagddruck gestiegen ist, sondern man muss den Wildstand und den Abschuss den heutigen Gegebenheiten anpassen. Die in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegenen Freizeitaktivitäten im Wald beeinflussen Wild und Jagd örtlich massiv. In Ballungsbereichen schränkt der Tourismus den Lebensraum des Wildes spürbar ein, in den Jagdzeitungen wird beredt Klage darüber geführt. Wird dieser Verlust an Fläche, die für das Wild nutzbar ist, bei der Bemessung des tragbaren Wildstandes berücksichtigt?
Ihre Ausführungen zeigen, dass der Bestand an Schalenwild seit den 1970er-Jahren bedeutend zugenommen hat und der Lebensraum des Wildes kleiner geworden ist. Wie wirkt sich denn das auf den Wald, insbesondere seine Verjüngung aus?
Es ist ganz normal, dass sich das im Wald lebende Schalenwild hauptsächlich von den krautigen und holzigen Gewächsen des Waldes ernährt. Wald und Wild sind aber keine unbeeinflussten Systeme, denn in den Wald greift die Forstwirtschaft und in den Wildstand die Jagd wesentlich ein. Wald und Wild stehen in einem Gegenseitigkeitsverhältnis. Die entscheidende Frage ist, wann und wo das tolerierbare Äsen des Wildes zum nicht mehr tolerierbaren Verbiss wird, also zum Schaden. Und genau das ist in den vergangenen fünfzig Jahren durch die Wildstanderhöhung vielerorts eingetreten. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, wie sehr sich die Zunahme des Wildstandes auf den Wald ausgewirkt hat. Insbesondere die bestandesstabilisierenden Baumarten Tanne, Eiche, Buche oder Bergahorn leiden vor allem dort, wo sie nur in geringem Ausmaß vorhanden sind, stark unter dem angestiegenen Verbissdruck. In einem gut geführten Revier wächst ständig mehr Bodenvegetation zu als laufend vom Wild weggebissen wird; in einem solchen Revier kann der Wildstand höher sein als in einem ausgeästen Revier.
Wie sehen Sie denn die Wald-Wild-Frage im Klimawandel?
Der Wald ist verschiedenen Einflüssen ausgesetzt, die auf sein Wachstum positiv oder negativ einwirken können. Je besser die Wachstumsansprüche eines Baumes in der Natur erfüllt werden, desto besser wächst er und federt er Störeinflüsse ab. Je weiter er von seinem standörtlichen Optimum entfernt ist, je mehr Störfaktoren auf ihn einwirken, desto labiler wird er im Wuchs. Die Temperaturerhöhung ist ein gravierender Einfluss, der manchen Baumarten sehr zu schaffen macht. Auch der Verbiss kann ein gravierender Faktor sein, der das Aufkommen der notwendigen Verjüngung stark beeinflusst, ja teilweise ganz verhindert. Wenn nun der Wald ohnehin schon vom Klima her stark unter Druck steht und dringend Verjüngung braucht – kann man ihm dann die Belastung durch den Verbiss auch noch aufbürden? Gegen Klimaänderung kann man unmittelbar so gut wie nichts tun, aber gegen einen zu starken Verbiss sehr wohl. In stark belasteten Gebieten, wie auf Freiflächen nach Sturmschäden, Borkenkäferbefall, Südlage etc., sollte die Tragbarkeit des Wildstandes besonders sorgfältig geprüft werden. Mit Recht wird heute allenthalben mehr Biodiversität im Wald verlangt, die gefördert werden müsse. Nichts würde die Biodiversität sofort mehr fördern als eine Verringerung des Verbissdruckes.
Wie beurteilen Sie die Zukunft, wenn Sie die heutige Situation im Wald mit Verbiss, Schälschäden und Klimabelastung als Ausgangslage nehmen?
Der Wald ist in allen seinen Funktionen für uns unverzichtbar. Wild und Jagd können den Wald sehr bereichern, sie können ihn aber auch beschädigen, ja zerstören. Die forstlichen wie auch die jagdlichen Maßnahmen sind voll auf seinen Schutz auszurichten. Gegen Hitze, Kälte, Hagel, Schnee und Sturm kann man kaum etwas tun, gegen zu starken Verbiss aber schon und mit sofortiger Wirksamkeit. Forstliche Maßnahmen, die Wald und Wild nützen, und ein tragbarer Wildstand, der dem Wald angepasst ist – das sollte das Motto für die Zukunft sein!
Herr Dr. Moser, vielen Dank für das Gespräch!